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Afghanistan 2014: Was die NATO vom Fußballtrainer Huub Stevens lernen kann

Die NATO-Verteidigungsminister haben einmal mehr deutlich gemacht, dass es 2014 keinen Abzug der NATO aus Afghanistan geben wird. 8.000 bis 12.000 Soldaten sollen bleiben. Dabei handelt es sich nicht um das US-Kontingent, sondern die genannte Spanne umfasst alle NATO-Kontingente, wie der scheidende US-Verteidigungsminister Panetta klar stellte (siehe z.B. SPON 22.2.2013 http://www.spiegel.de/politik/ausland/minister-de-maiziere-gibt-us-truppenstaerke-in-afghanistan-falsch-an-a-885020.html ).

8.000 bis 12.000 Soldaten – das sind weniger als 2011/12 in der Diskussion waren: Damals wurden Zahlen von 35.000 bis zu 40.000 gehandelt (vergl.: http://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/120328_NATO-zu_gast_bei_freunden.html ). Aktuell (19.2.2013) sind noch 100.330 NATO-Soldaten in Afghanistan stationiert (Quelle: http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2013_02/130220-isaf-placemat.pdf ).

Da seit 2010 vom „Abzug 2014“ schwadroniert wird, sind auch noch 8.000 Soldaten genau 8.000 zu viel für einen „Abzug“. Alle, die vom Abzug aus Afghanistan 2014 sprechen, sollten sich an der Philosophie des früheren Schalker Fußballtrainers, Huub Stevens, orientieren: „Die Null muss stehen!“ Denn 8.000 ist mathematisch größer als 0. Und nur wenn die Null stände, wäre es ein Abzug der NATO. Die deutsche Sprache hält für den geplanten Vorgang den Begriff „Reduktion“ bereit. Die FAZ hat es in ihrer Printausgabe am 23.2.2013 geschafft, den mathematisch-logischen Widerspruch in eine knappe Überschrift zu pressen: „Bis zu 12000 Soldaten nach Abzug in Afghanistan“. Da die NATO-PR-Kampagne „Abzug 2014“ inzwischen solche Blüten treibt, wäre es vielleicht angemessener statt Ausbildungshilfe für die afghanische Regierungstruppen zumindest eine JournalistInnen Ausbildung bezüglich Rechnen und Logik anzubieten. In den entsprechenden Kursus könnte man auch diverse PolitikerInnen integrieren, die das Abzugs-Märchen ebenfalls seit 2010 erzählen und auf Nachfrage zugeben, dass doch noch ein paar Soldaten in Afghanistan aktiv bleiben sollen. Der entsprechende Kursus könnte von Huub Stevens übernommen werden, denn der ist zur Zeit arbeitslos.

Im Oktober 2012 sollte die Post-2014-Mission der NATO in Afghanistan noch ITAM oder ITAAM heißen – als Abkürzung für „International Training, Advisory, and Assistance Mission“. Nun soll man sich schon wieder einen neuen Namen für die neue NATO-Mission merken: „Resolute Support“. Was ist geschehen? „Kenner der Region“ warnten im letzten Jahr „vor möglichen Missverständnissen. Demnach könne der Name bei der lokalen Bevölkerung völlig falsch verstanden werden, da das arabische Wort für Anklage und Schuldzuweisung sehr ähnlich klingt.“ (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ausbildung-in-afghanistan-nach-2014-nato-muss-neue-mission-umbenennen-a-869839.html ) Einer der Kenner: der GRÜNE MdB Omid Nouripour. (Warum die Mission nicht weiter ISAF heißt und überhaupt ein neuer Markenname erforderlich ist, wurde im Blog der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE bereits erklärt: http://blog.gruene-friedensinitiative.de/?p=571 )

Inhaltlich hat sich die Aufgabe der NATO im afghanischen Bürgerkrieg nach 2014 nicht verändert: Sie soll „Training, Ausbildung und Unterstützung“ für die afghanischen Truppen leisten, teilt uns der deutsche Minister de Maizière mit (FAZ 23.2.2013). Etwaige Kampfeinsätze der nach 2014 verbleibenden NATO-Truppen sind dann wohl als „Unterstützung“ zu verstehen. Wie das in der Praxis geht, kann man schon jetzt in Afghanistan besichtigen. Seit Jahresbeginn hat die NATO kaum noch eigenen Verluste zu beklagen (9 Soldaten sind bis zum 23.2.2013 gefallen, im Vorjahreszeitraum waren es über 50). Die Erklärung dafür dürfte sein, dass die NATO ihre Bodentruppen nicht mehr so häufig und intensiv zu Offensiven ausrücken lässt. Militärisch ist sie jedoch als Luftwaffe weiter präsent. Gerade wurden bei einem NATO-Luftangriff im Februar 2013 wieder 10 ZivilistInnen, darunter Frauen und Kinder, getötet. Zur Strafe hat Karzai daraufhin verboten, dass die afghanischen Regierungstruppen in Zukunft „Luftunterstützung“ bei der NATO anfordern. Aber wo sollen sie das sonst tun? Es gibt keine wirklich einsatzfähige afghanische Luftwaffe. Und die militärische Trumpfkarte im Krieg ist die totale Luftüberlegenheit des militärischen Bündnisses aus NATO und Karzai-Regime. Es ist unvorstellbar, diesen Trumpf aufzugeben. Die Aufgabe, Karzai-Luftwaffe zu spielen, wird die NATO solange versehen, bis eventuell einmal die afghanische Luftwaffe voll funktionsfähig ist. Der Plan: Dies soll bis 2016 geschehen sein. Dann soll diese aus 145 Flugzeugen und Hubschraubern bestehen (2012 waren es 68). Mittels der bisher aufgebauten afghanischen Luftwaffe geht man vor Ort übrigens einem lukrativem Nebenerwerb nach: Das Wall Street Journal berichtete, dass die Maschinen für Drogentransporte eingesetzt werden („Afghan Air Force Probed in Drug Running“ 10.3.2012).

Daraus folgt, dass die NATO-Luftwaffe mindestens bis 2016 in Afghanistan tätig sein wird.

Aber zur Militärausbildung, die ja in den letzten Jahren allenthalben hoch im Kurs steht. Westliche Staaten wenden das Rezept inzwischen in vielen Ländern an, nicht nur in Afghanistan. Seit 2006 bildet die EU „Sicherheitskräfte“ für den somalischen Bürgerkrieg aus. Erfolg: „Zwischen 2006 und 2008 bildete das Nachbarland Somalias (gemeint ist Äthiopien, UC) mit finanzieller Unterstützung der EU und der BRD 17.000 somalische Soldaten und Polizisten für die TFG (= Transitional Federal Government, also: die Übergangsregierung) aus. Jedoch konnte bereits im Dezember 2008 nur noch für einen Bruchteil dieser Sicherheitskräfte, nämlich 3.000 Mann, der Nachweis erbracht werden, dass sie noch für die TFG aktiv sind. Der Verbleib der restlichen 14.000 Mann bleibt im Dunkeln. Wie viele von ihnen getötet wurden, desertierten oder zu gegnerischen Gruppen übergelaufen sind, ist unklar…“ (M. Brehm u.a.: Armee im Einsatz, Hamburg 2012, S.154). Mittlerweile bildet die EU mit Beteiligung der Bundeswehr selbst in Uganda aus. Auch in Mali beginnt demnächst eine militärische Ausbildungsmission. Nicht die erste: Ein beträchtlicher Teil der hauptsächlich von den USA aufgebauten und trainierte Armee Malis lief 2012 zu den Aufständischen in Nordmali über. Hauptmann Sanogo, auch von US-Truppen ausgebildet, putschte 2012 gegen die amtierende Regierung.

Zum Glück hat der deutsche Verteidigungsminister ein Rezept. Nämlich: Die Deutschen müssen es selber machen. Auch Deutschland hat in Mali in der Vergangenheit schon Ausbildungserfahrung. De Maizière am 20.2.2013 im Bundestag: „Wir waren mit vier, fünf, sechs Soldaten dabei und haben Pioniere ausgebildet. Ehrlich bzw. etwas arrogant gesagt: Die, die wir ausgebildet haben – wir haben zu ihnen noch ein bisschen Kontakt –, gehören sicherlich zu den Besseren der malischen Streitkräfte, aber es waren eben nur wenige.“

Auch in Afghanistan sind übrigens Ausbildungserfolgsmeldungen der NATO mit großen Fragezeichen zu versehen (vergl. z.B. http://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/110102_GFI_Kommentar_AFG.pdf ). Selbst ein eingefleischter Unterstützer des Krieges wie Erler von der SPD beschlichen am 15.12.2011 im Bundestag Zweifel: „Aber wir verfügen nur über vage Daten, was die Qualität und die Schwundquote und damit die Nachhaltigkeit der Einsatzfähigkeit dieser Kräfte angeht.“

Egal, Militärausbildung bzw. Ausbildung polizeilicher Repressionskräfte liegen im Trend. Es ist offenbar eine so tolle Sache, dass militärische Werkzeuge im Grunde schon als zivil gelten. Jedenfalls flossen laut Angaben des afghanischen Finanzministeriums von den 35 Mrd. US-$ internationaler „Entwicklungshilfe“ von 2002 bis 2009 19 Mrd. US-$ in den Sicherheitssektor !!! (Siehe: http://www.imi-online.de/2011/10/28/afghanistan-das-dram-2/ )

In Britannien diskutiert man, ob man nicht noch einen Schritt weiter gehen soll: Premierminister Cameron zeigt sich „offen“ dafür, Kosten für „friedenserhaltende Sicherheits- und Stabilisierungsmaßnahmen“ in Zukunft aus dem Entwicklungshilfeetat zu bezahlen. „Sicherheit sei die Basis, von der aus Entwicklungshilfe erst Wirkung zeigen könne, argumentiert Cameron.“ (FAZ 22.2.2013 „Verteidigung statt Entwicklung“) Nebeneffekt wäre, dass diese Kosten dann auf die jahrzehntelange UN-Vorgabe 0,7% des BIP für Entwicklungshilfe auszugeben angerechnet werden! Es lohnt sich also, in Zukunft die Entwicklungshilfeetats der NATO-Länder genauer anzuschauen.

Uli Cremer

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Afghanistan-Krieg 2014: NATO wechselt Markennamen

2014 soll aus der ISAF der NATO die ITAM werden. ISAF bedeutete
„International Security Assistance Force“. ITAM ist die Abkürzung für „International Training, Advisory and Assistance Mission“ – das klingt doch gleich etwas niedlicher und friedlicher. Warum wird aber der Name geändert?

Zur Erklärung mag ein Blick in die Marketingwelt helfen. Hier gilt zunächst: Eine Marke oder einen Markennamen zu etablieren kostet Zeit und Geld. Wenn der Name gewechselt wird, ist das investierte Geld verloren und man beginnt wieder bei Null. Insofern ist das ökonomisch nicht so schlau. Trotzdem werden hin und wieder Markennamen geändert, z.B. wenn eine Firma ein identisches Produkt in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Markennamen verkauft. Wenn also aus „Raider“ „Twix“ wird, kann die Firma die internationalem Werbekampagnen effektivieren: „Sonst ändert sich nix“, hieß es damals in der Werbung, die den Namenwechsel den deutschen KonsumtentInnen bekannt machen und dafür sorgen sollte, dass der Markenaufbau für Raider nicht völlig für die Katz‘ war.

Aber es gibt natürlich auch andere Gründe für ein Unternehmen einen Markennamen oder sogar seinen Unternehmensnamen zu ändern. Ein aktuelles Beispiel ist dies:

„Der Schweizer Lebensversicherer Swiss Life plant, seine Tochtermarke AWD umzubenennen. Laut ‚FTD’ soll AWD im November einen neuen Namen erhalten. Die Gründe dafür sind schlecht laufende Geschäfte bei dem Finanzvertrieb und das schlechte Image… Swiss Life hatte die Marke 2007 für 1,2 Milliarden Euro von Gründer Carsten Maschmeyer übernommen.“ (aus: Horizont 27/2012)

Man sieht: bestimmte Probleme hat die NATO nicht exklusiv.

Aber der mündige Verbraucher weiß: Nicht nur auf die Packung gucken, sondern auch auf den Inhalt. Was wissen wir bisher über den Inhalt dieser ITAM? Dass afghanische Sicherheitskräfte kräftig ausgebildet werden sollen. Moment! Das macht die ISAF der NATO doch jetzt auch schon! Jedenfalls sind die Nachrichten voll davon. Nebenher führt sie auch noch Kriegsoperationen durch. Auch in 2012 sind wieder hunderte NATO-Soldaten im AFG-Krieg getötet worden. Also: Aus ISAF wird jetzt ITAM, sondern ändert sich nix?!

Als Kronzeuge sei John Allen angeführt. Dieser war bisher ISAF-Chef in Afghanistan und ist gerade von den NATO-Verteidigungsministern zum neuen NATO-Oberkommandeur ernannt worden. Was denkt er über den „Abzug 2014″? Im Oktober 2011 sagte er dies:

„Der Plan ist es, zu gewinnen. Der Plan ist, erfolgreich zu sein. Und deshalb werden wir, auch wenn einige Leute meinen zu hören, wir würden 2014 abziehen, […] tatsächlich noch für eine lange Zeit dort bleiben.“*

Nun kann man natürlich sagen, man gewinnt, indem man andere ausbildet, die dann den konkreten Krieg führen und gewinnen. Aber stutzig macht die Formulierung, die Ausbilder (der ITAM) sollten „durch Kampfsoldaten geschützt werden“ (de Maizière). Der deutsche Verteidigungsminister ist ja immer ein Mann der klaren Worte. Deswegen hat er am 13.12.2011 auch schon das Publikum bezüglich des Verhältnisses Kampftruppen und Ausbilder hinreichend aufgeklärt: ‚„Sachlich falsch“ sei im Übrigen die These, dass nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr in Afghanistan stationiert sein würden. „Die weiter geplante Ausbildung von afghanischen Infanteriekräften machen bei uns nicht die Sanitäter, sondern natürlich Infanteristen. Und das sind kampffähige Truppen.“ Es gehe also um deren Auftrag, nicht um deren Fähigkeiten. Es blieben kampffähige unterstützende Truppen, die weiter ausbildeten. Deren Zahl über das Jahr 2014 hinaus sei „völlig offen“.**

Diese PR-Taktik, noch keine konkreten Zahlen zu nennen, wird bis heute angewandt. Löblicherweise nannte jedoch der Bundesnachrichtendienst (BND) in einer geheimen Analyse für die Bundesregierung Zahlen. Laut Spiegel Online prophezeite der BND, „dass nach 2014 rund 35.000 internationale Soldaten stationiert sein würden, rund 25.000 davon würden die USA stellen. Für die Bundeswehr konnte man aus dieser Rechnung ableiten, dass Deutschland vermutlich mit rund 1500 Mann am Hindukusch präsent bleiben wird, wenn die Regierung sich wie bisher im Nato-Konzert an der Mission beteiligen will.“ (SPON 09.10.2012) Spiegel Online schlussfolgert: „Im Vergleich zu den derzeit 5000 Soldaten in Afghanistan wirkte das eher wie eine Verkleinerung der Mission als nach einem Abzug.“ Bezogen auf das gesamte Militärkontingent der NATO reduzierte sich die Mission von jetzt 104.905 Soldaten (eigene NATO-Angabe vom 8.10.2012) auf jene „rund 35.000“. Ein Drittel bliebe also. Insofern ist die ITAM die ISAF mit reduziertem Inhalt. Qualitativ dürfte sich aber die Bewaffnung ändern: Vorsprung durch Technik, d.h. mehr Drohnen, weniger Infanteristen und Gewehre.

Neu und geheim ist das alles übrigens nicht. Die vom Regime Karsai eingesetzte Lorga Dschirga hatte den Vorschlag für die Stationierung von 25.000 US-Truppen bis zum Jahre 2024 bereits im Herbst 2011 (!) unterstützt. Und am 1.1.2012 hatte die Süddeutsche Zeitung schon geschrieben, dass nach 2014 weiterhin 15.000 NATO-Soldaten mit von der Partie bleiben sollen. Wenn diese „on top“ kämen, ergäbe sich sogar eine Gesamtzahl von 40.000 westlichen Soldaten. Ein Geheimdienst wie der BND ist eben gut informiert, weil er die Zeitungen liest. Oder auch die Website der Grünen Friedensinitiative, auf der solche Fakten stets gut gebündelt präsentiert werden…

Uli Cremer

*) Zitiert nach: http://www.imi-online.de/2011/12/05/petersberg-konferenz/
**) http://nachrichten.lvz-online.de/nachrichten/topthema/verteidigungsminister-de-maizire-geplanter-truppenabzug-aus-afghanistan-macht-mehr-kraefte-noetig/r-topthema-a-117117.html, gefunden 13.12.2011

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Afghanistan: Deutsche MilitärpolitikerInnen verpennen wichtiges Kriegsereignis

Am 3.7.2012 fand ein für den Afghanistan-Krieg militärisch sehr wichtiges Ereignis statt, das faszinierenderweise von den Parteien und Bundestagsfraktionen, die den Militäreinsatz unterstützen, vornehm ignoriert wurde. Während insbesondere die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der GRÜNEN zu allen möglichen und unmöglichen politischen Themen Presseerklärungen abgeben und auch in der ersten Juli-Woche abgegeben haben, wurde zu dem Ereignis geschwiegen. (Auch die Linkspartei gab ihre letzte Afghanistan-Erklärung am 1.7.2012 ab, aber die tritt ja seit 2001 gegen die Einsatz auf.)

Nein, das Ereignis ist nicht der Truppenbesuch von de Maizière. Viel, viel wichtiger: Die Nachschubroute über Pakistan kann seit dem 3.7.2012 wieder benutzt werden. Am 5.7. 2012 haben offenbar die ersten vier LKWs mit Nachschubgütern die afghanische Grenze erreicht. Seit Ende November hatte Pakistan keinen Transfer mehr zugelassen, nachdem NATO- bzw. US-Bomber bei einem Angriff auf einen pakistanischen Grenzposten 24 Soldaten töteten.

Die Einigung zwischen US-Regierung und pakistanischer Regierung kam überraschend, auch der deutsche Militärminister de Maizière, der gerade in AFG weilte, ging in seinen Interview-Äußerungen davon aus, dass die pakistanische Route weiter geschlossen bleiben würde. Eine Entschuldigung der US-Regierung plus Wiederaufnahme der milliardenschweren US-Militärhilfe für Pakistan sollen es möglich gemacht haben. Immer wieder hatte es Gerüchte gegeben, die Route würde ganz bald wieder geöffnet, zuletzt anlässlich des NATO-Gipfels in Chicago im Mai. Da hätte eine solche Erfolgsmeldung der geschundenen NATO-Seele sicher gut getan.

Warum ist dieses Ereignis nun so wichtig? Früher war 80% des Nachschubs über Pakistan abgewickelt worden. Auch wenn die Alternativrouten nach Nordafghanistan sowie der Luftweg noch offen standen und ausgebaut wurden, wurde die Kriegsmaschinerie signifikant getroffen. Das findet sich natürlich in keinem NATO-Kommuniqué, da keine positive Nachricht. Zufällig am 4.7.2012 veröffentlichte die FAZ eine Afghanistan-Reportage auf Seite 3 („Bis alles schläft und keiner mehr wacht“), die die Dinge ein wenig erhellt. Darin wird von einem Kompaniechef der afghanischen Armee berichtet, der sich „damit herumschlagen“ muss, „wie er an Benzin kommt“. Denn: „Das Benzin ist knapp… Weil das Bataillon nicht im Kampf steht, bekommt es von der regionalen Armeeführung in Masar-i-Sharif statt der vorgesehenen 10 000 Liter nur 8 000 Liter Diesel. Aber auch die kommen selten an.“ Ja, ja, die Korruption. Übersetzt: Für die NATO-Verbündeten war monatelang das Benzin rationiert worden, vermutlich auch für die NATO-Truppen selbst. Entsprechend muss(te) die ein oder andere militärische Operation ausfallen.

Das könnte nun wieder ein Ende haben. Deswegen Erleichterung bei der NATO. Denn in Brüssel weiß man durchaus, worauf es im Krieg ankommt. Deswegen begrüßte der NATO Generalsekretär im Gegensatz zu den deutschen MilitärpolitikerInnen in einem Statement sofort das Ereignis: „ I welcome Pakistan’s announcement that the ground supply lines to Afghanistan are now opening. The resumption of transit arrangements for ISAF supplies through Pakistan demonstrates strengthened cooperation between ISAF nations and our partner Pakistan.“ (3.7.2012 – Quelle: www.nato.int) Um es noch mal deutlich zu sagen: Es sind ab sofort wieder mehr Kampfhandlungen und entsprechend mehr Tote in Afghanistan möglich. Die Aufständischen haben außerdem angekündigt, die Transporte auch in Pakistan zu attackieren: „Wir werden nicht nur den Nachschub angreifen, sondern auch die Fahrer der Lastwagen töten“, erklärte ein Sprecher der pakistanischen Taliban (siehe SZ vom 5.7.12).

Immerhin haben also auch die deutschen Medien das Ereignis aufgegriffen – allerdings zumeist mit einem dicken „Abzugs“-Propagandabrett vorm Kopf – beim NATO-Generalsekretär ist davon nicht die Rede, ihm geht es um NACHSCHUB (nichts Anderes bedeutet das englische Wort „supplies“), also darum, neue Güter HINEINZUBRINGEN, nicht um Abzugscontainer. Schreibt z.B. die WELT am 3.7.2012: „Die Öffnung der Landwege durch Pakistan ist auch für den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan von großer Bedeutung. Das Material könne nun „zu viel geringeren Kosten“ heimgeholt werden, sagte Clinton. Alle ausländischen Kampftruppen sollen bis Ende 2014 vom Hindukusch abziehen.“ Die Süddeutsche behauptet am 4.7.12 allen Ernstes, dass die Bundeswehr „mit dem Abzug aus Afghanistan begonnen“ habe („Operation ohne Blaupause“). Gleichzeitig hält der Autor des Artikels, Peter Blechschmidt, es für „sehr wahrscheinlich“, „dass auch (nach 2014, UC) Soldaten am Hindukusch bleiben, als Berater und als Ausbilder, und dieses Personal muss wiederum geschützt werden, von kampferprobten Soldaten. Die Bundeswehr wird also weiterhin mit Menschen und Material präsent bleiben.“ Man möchte ihm zurufen: „Herr Blechschmidt, deswegen ist das ja auch gar kein Abzug. Begreifen Sie doch: Es ist nur eine Reduzierung!“

Geplant wird nämlich seitens der NATO, die Truppen von bisher130.000 auf nur noch ca. 30.000 zu reduzieren (siehe dazu auch den Artikel der Grünen Friedensinitiative http://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/120526_kabul_kunduz_chicago.html ). Die 30.000 könnte man dann notfalls monatelang problemlos ohne die pakistanische Nachschubroute über den Norden versorgen.

Für die politische Diskussion ist jetzt allerdings interessant, was aus de Maizière’s Position wird, man müsse ein neues Bundeswehr-Mandat für die Absicherung der „Abzugs“ (auch der NATO-Verbündeten) im Norden machen: „Im Verteidigungsministerium wird erwogen, für den Abzug ein eigenes Bundestagsmandat anzustreben. Die Gesamtzahl der Bundeswehrsoldaten soll sich dadurch aber nicht erhöhen.“ (tagesschau.de 3.7.2012) Also ist einstweilen nicht einmal eine Reduzierung der Bundeswehr-Truppenstärke in Afghanistan vorgesehen! Der GRÜNE Abgeordnete Frithjof Schmidt hatte das am 22.5.2012 richtig erkannt und benannt: „Seit Monaten weigert sie (die Bundesregierung, UC) sich einen Abzugsplan für Afghanistan vorzulegen.“ Und: „ Statt über einen Abzugsplan denkt die schwarz-gelbe Koalition über eine Erhöhung der Truppenzahl nach…“ (Quelle: http://frithjof-schmidt.de/detail/nachricht/ohne-plan-afghanistan-und-der-abzug.html )

Wenn die NATO-Truppenreduktion bis 2014 nun doch hauptsächlich über Pakistan erfolgen kann, erhält die de Maizière Argumentation Risse. Kann sich das Verteidigungsministerium dann weiter signifikanten Reduzierungen des deutschen Kontingents verweigern? So könnte die Wiederöffnung der pakistanischen Wege zu tatsächlicher Verkleinerung des deutschen Afghanistankontingents führen. Das wäre dann gewissermaßen ein Kollateralnutzen!

Uli Cremer

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Syrienkrieg: Türkei verliert ersten Kampfjet

Am 22.6.12 schoss Syrien einen türkischen Kampfjet ab. Die türkische Regierung reagierte empört und befasste am 26.6.12 die NATO-Kollegen mit der Angelegenheit; dabei machte sich die NATO insgesamt die türkische Version des Vorfalls zu Eigen. Diese geht so: Das Flugzeug „stürzte etwa 12 Kilometer vor der syrischen Küste ins Meer… Das Flugzeug habe womöglich kurzzeitig den syrischen Luftraum verletzt, wurde nach Angaben von Außenminister Davoutaglu aber über internationalen Gewässern abgeschlossen. Die Maschine habe einen Ausbildungsflug absolviert und keinen Auftrag im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien gehabt.“ (FAZ 25.6.2012) Nach Angaben von Davutoglu gab es gewissermaßen folgenden „Ausbildungsauftrag“: „Die Maschine habe die eigene türkische Luftabwehr testen wollen und sei deshalb auch so niedrig geflogen…“ (SZ 25.6.12) Die tagesschau berichtet den Vorfall so: „Die türkische Seite räumt zwar ein, dass die Maschine sich kurzzeitig im syrischen Luftraum aufgehalten habe, dann aber in internationalem Luftraum zurückgekehrt sei. Dort sei sie dann von der syrischen Seite abgeschossen worden. Da die Besatzung kein Radar-Warnsignal gemeldet habe, werde vermutet, dass eine hitzesuchende Rakete auf das Flugzeug abgefeuert wurde, sagte der türkische Vize-Regierungschef Bülent Arinc.“ (http://www.tagesschau.de/ausland/natorat104.html)

Syrien hingegen betont, das Flugzeug sei über syrischem Luftraum abgeschossen worden. Der Sprecher des syrischen Außenministeriums Makdessi „behauptet hingegen, dass der Jet mehrfach in den syrischen Luftraum eingedrungen sei. Das Flugzeug sei in circa 100 Meter Höhe und etwa ein bis zwei Kilometer Entfernung von der Küste aufgetaucht. Dort sei es dann von einem Luftabwehrgeschütz abgeschossen worden. Die Aktion sei ein Akt der Selbstverteidigung staatlicher Souveränität gewesen.“ (ebenda) Details zur syrischen Version, z.B. das das Luftabwehrgeschütz gar nicht die Reichweite hat, um ein Ziel über internationalen Gewässern zu treffen) sind bei der staatlichen syrischen Medienagentur SANA nachzulesen. (Makdessi: Turkish Military Aircraft Violated Syria’s Sovereignty, Syrian Response Was Defensive Act, http://www.sana.sy/eng/21/2012/06/25/427549.htm)

Luftabwehrgeschütz oder Rakete? Eine neutrale internationale Untersuchung etwa unter Beteiligung der 5 UN-Vetomächte oder eine gemeinsame türkisch-syrische Untersuchung könnte helfen, die Wahrheit herauszufinden. Letzteres schlug Makdessi vor, aber über eine positive Reaktion der türkischen Regierung ist bisher nichts bekannt geworden. Insofern liegt der schwarze Peter in Ankara und speist den Verdacht, dass mit der offiziellen türkischen Version etwas nicht stimmt. Auch davon, dass die türkische Version nun die NATO-Version ist, wird sie nicht glaubwürdiger.

Stellen wir einmal die eigentliche Ausgangsfrage: Was macht ein türkischer Kampfjet vor der syrischen Küste? Oder in den Worten von Lutz Herden vom FREITAG (28.6.2012): „Warum muss sich einen Militärmaschine aus der Türkei syrischem Luftraum soweit nähern, dass der verletzt werden kann?“ Umgekehrt fliegen ja auch keine syrischen Maschinen vor der türkischen Küste. Ausbildungsflüge absolviert man eigentlich nicht über feindlichem Luftraum oder in direkter Nähe. Selbst die SZ befindet: „So gibt es keinen vernünftigen Grund, an der Grenze zu einem von Gewalt geschüttelten Land Übungsflüge zu absolvieren.“ (SZ 27.6.12)

Faktisch hat die Türkei Syrien, das völkerrechtlich noch immer von Assad regiert wird, seit einigen Monaten den Krieg erklärt und unterstützt die oppositionellen militärischen Kräfte. Bisher ist es noch ein kalter Krieg. Aber: Wird hier etwa ein militärisches Eingreifen der NATO vorbereitet? Da es für die NATO politisch unmöglich erscheint, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats für Militärschläge gegen Syrien zu erhalten, wäre das Konstrukt der „Selbstverteidigung“ via „NATO-Bündnisfall“ eine Alternative. In Artikel 51 betont die UN-Charta „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Logistisch hat die türkische Regierung in den letzten Tagen schon einmal weitere Truppen und Waffen an die syrische Grenze verlegt, auch die syrischen Truppen sind verstärkt worden.

Das Hula-Massaker

In einem anderen Fall wurde seitens der UNO versucht, die Faktenlage zu erhellen, nämlich bezüglich des Massakers von Hula vom 25.Mai 2012. Dieses ist bekanntlich nicht irgendein Massaker der letzten Monate, sondern dieses war von den westlichen Staaten als Anlass und Begründung genommen worden, die jeweiligen syrischen Botschafter auszuweisen. Im Gegenzug verwies Damaskus die entsprechenden westlichen Botschafter des Landes, so dass nun keinerlei diplomatische Beziehungen mehr bestehen. Der UNO-Menschenrechtsrat kam allerdings zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die unverdächtig ist, mit dem Assad-Regime gemeinsame Sache zu machen, eine Version des Tathergangs veröffentlicht hat, nach der syrische Oppositionelle für das Massaker verantwortlich sind, denn die Opfer waren offenbar gar keine Regimegegner: „Getötet worden seien nahezu ausschließlich Familien der alawitischen und schiitischen Minderheit Hulas, dessen Bevölkerung zu mehr als neunzig Prozent Sunniten sind. So wurden mehrere Dutzend Mitglieder einer Familie abgeschlachtet, die in den vergangenen Jahren vom sunnitischen zum schiitischen Islam übergetreten sei. Getötet wurden ferner Mitglieder der alawitischen Familie Shomaliya und die Familie eines sunnitischen Parlamentsabgeordneten, weil dieser als Kollaborateur galt. Unmittelbar nach dem Massaker hätten die Täter ihre Opfer gefilmt, sie als sunnitische Opfer ausgegeben und die Videos über Internet verbreitet.“ http://www.faz.net/aktuell/politik/neue-erkenntnisse-zu-getoeteten-von-hula-abermals-massaker-in-syrien-11776496.html Ein paar Tage später bestätigte die FAZ ihre Version: http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/syrien-eine-ausloeschung-11784434.html

Uli Cremer

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Potemkinsche Abzugspläne

Im Dezember 2011 wurde auf der Bonner Afghanistankonferenz die „Transformationsdekade“ von 2015 bis 2024 ausgerufen. Zur Erinnerung: Aktuell befinden wir uns in der „Transition-Periode“ von 2011-2014.

Die spannende Frage, mit wie vielen westlichen Einsatzkräften „transformiert“ wird, nimmt langsam Formen an. Bereits im Herbst 2011 hatte die vom Regime Karsai eingesetzte Lorga Dschirga den Vorschlag für die Stationierung von 25.000 US-Truppen bis zum Jahre 2024 unterstützt.

Am 1.1.2012 meldete die Süddeutsche Zeitung, dass 15.000 NATO-Soldaten mit von der Partie bleiben sollen. Zählen wir mal schnell zusammen, so sind das 40.000. Wenn die 25.000 US-Soldaten bereits das US-Kontingent für die NATO erhält, vielleicht auch nur 30.000. Denn die USA stellt aktuell gut 2/3 der 130.000 ISAF-Soldaten in Afghanistan. 2/3 von 15.000 sind 10.000. Dann würden die anderen NATO-Staaten noch 5.000 beisteuern müssen.

Quelle der SZ ist der Chef des Bundeswehrverbandes Kirsch:

„Kirsch meint dagegen, die Bundesregierung mache sich und der Öffentlichkeit etwas vor: „Wer den Krieg beenden will, der braucht einen Schlachtplan für den Frieden. Und er muss deutlich machen, wie er reagieren will, wenn sich eine Krise ergibt“, sagte er. Dafür müssten Kampftruppen bereitgehalten werden. Wie viele internationale Soldaten nach 2014 in Afghanistan noch benötigt werden, wollte Kirsch nicht abschätzen. Die von der Nato ins Gespräch gebrachten 15.000 – etwas mehr als ein Zehntel der jetzigen Truppenstärke – hält er aber für zu tief gegriffen. „Ich bin sehr skeptisch, dass man so weit reduzieren kann.““
Als „bündnistreue“ Nation wird Deutschland da sicher seinen Beitrag leisten wollen, so dass auch die Laufzeit des Bundeswehreinsatzes bis 2024 weitergehen dürfte. „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“, lautet ja die Parole.

Der „Abzug“ aus Afghanistan 2014 ist eben nur eine Potemkinsche Fassade. Während 1787 Potemkin mit seinen Dorffassaden auf der Krim seine Herrscherin Zarin Katharina II. beeindrucken wollte, beabsichtigen die NATO-Regierungen mit ihren Fassaden in Afghanistan heute ihre Bevölkerungen zu beeindrucken. Es gibt eben feine Unterschiede zwischen einem Feudalsystem und einer Demokratie.

Es wäre wünschenswert, wenn bei der Debatte um die anstehende Mandatsverlängerung für die Bundeswehr durch den Deutschen Bundestag Ende Januar wenigstens die Oppositionsparteien nicht an den Fassaden mitbauen würden. Druck auf speziell die GRÜNEN Abgeordneten soll der aktuelle Aufruf der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE ausüben:
http://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/111220_taz-anzeigenkampagne.html

Uli Cremer

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Minister de Maizière ist ein ehrlicher Mensch

Minister de Maizière ist im Gegensatz zu Anderen ein ehrlicher Mensch. Angesichts der monatelangen Märchenerzählungen in Sachen Abzug aus Afghanistan in 2014 rückte er die Dinge in einem Gespräch mit der Leipziger Volkszeitung am 12.12.2011 zurecht und befand:

„Sachlich falsch“ sei im Übrigen die These, dass nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr in Afghanistan stationiert sein würden. „Die weiter geplante Ausbildung von afghanischen Infanteriekräften machen bei uns nicht die Sanitäter, sondern natürlich Infanteristen. Und das sind kampffähige Truppen.“ Es gehe also um deren Auftrag, nicht um deren Fähigkeiten. Es blieben kampffähige unterstützende Truppen, die weiter ausbildeten. Deren Zahl über das Jahr 2014 hinaus sei „völlig offen“.

Es bleibt zu hoffen, dass diese Klarstellung auch in den verschiedenen Politiker- und Medienbüros ankommt. Dann kann die Auseinandersetzung um den Afghanistankrieg etwas ehrlicher geführt werden, hoffentlich auch bei den GRÜNEN. Das Thema ist eben keineswegs „gelaufen“, weil die NATO sowieso bald abzieht. Dazu passt auch, dass die afghanische Regierung einem Stationierungsabkommen mit den USA für 25.000 US-Soldaten bis 2024 – geschrieben zweitausendvierundzwanzig – zugestimmt hat und dafür die Werbetrommel rührt.

Die Frage ist nun: Will die deutsche Regierung beim Afghanistankrieg ebenfalls bis 2024 mitmischen?

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Westerwelle und Libyen: Zurücktreten bitte?

Das Kesseltreiben gegen Westerwelle, um ihn aus dem Amt des Außenministers zu drängen, nimmt Fahrt auf. Sogar erste FDP-Mitglieder legen ihm einen „anständigen Rücktritt“ nahe. Anlass ist, dass die NATO inzwischen den Regime-Change (früher hieß das: „Export der Revolution“) in Libyen erfolgreich bewerkstelligt hat. Ihre Luftangriffe gegen die Gaddafi-Regierung sowie Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe für die Rebellen haben diesen zum Sieg im Bürgerkrieg verholfen. Nun finden es viele unangemessen, dass sich Westerwelle auf die Seite der Sieger stellt, denn er war im März gegen den westlichen Kriegseintritt und sorgte dafür, dass sich Deutschland im Sicherheitsrat der Stimme enthielt.

„Der Erfolg der Nato ist ein später Beleg dafür, dass die Entscheidung falsch war, die Außenminister Guido Westerwelle am 17.März getroffen hat.“ Dieser Satz aus der Frankfurter Rundschau ist repräsentativ für den medialen und politischen Mainstream in Deutschland: Wer den Krieg gewinnt, hat Recht. Umgekehrt kann man daraus lesen, dass sich der Mainstream offenbar an dem NATO-Krieg beteiligen wollte. Denn mit „Ja“ stimmen und dann nicht mitmachen – das war natürlich zu keiner Zeit ernsthafte politische Option. Das weiß jeder Westerwelle-Kritiker, auch wenn das öffentlich nicht so gerne zugegeben wird. Das musste man ja „zum Glück“ auch nicht, da z.B. der Bundestag (dank Westerwelle) nie über eine deutsche Kriegsbeteiligung abstimmte. Da hätte sich dann Spreu vom Weizen trennen müssen.

Dass trotzdem einige deutsche Militärs in den NATO-Stäben den Krieg mitführten, wie Christian Ströbele unlängst aufdeckte, sollte man nicht nur aus Demokratie-Gründen (Übergehen des Parlaments) kritisieren, sondern weil die Kriegsbeteiligung falsch war.

Was war an dieser falsch, wo doch der Krieg jetzt offenbar gewonnen ist? Der angegebene Kriegsgrund („humanitäre Intervention“) ist zweifelhaft. Der Hamburger Prof. Reinhard Merkel dazu: „Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ (FAZ 22.3.2011) US-Professor Alan J. Kuperman stellt im Boston Globe vom 14.4.2011 sogar das Basisargument, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi gedroht, in Frage: „Nor did Khadafy ever threaten civilian massacre in Benghazi, as Obama alleged. The “no mercy’’ warning, of March 17, targeted rebels only, as reported by The New York Times, which noted that Libya’s leader promised amnesty for those “who throw their weapons away.’’ Khadafy even offered the rebels an escape route and open border to Egypt, to avoid a fight “to the bitter end.’’”]

Gehen wir trotzdem einmal davon aus, dass im März ein Blutbad in Benghasi durch das Gaddafi-Regime drohte. NATO-Mächte wie Frankreich und Britannien bereiteten Luftangriffe vor und besorgten sich ein UN-Mandat. Die Flugverbotszone wurde eingerichtet. Nach dieser Lesart war Ende März also das Blutbad in Benghasi verhindert worden.

Aber wieso wurde nach der UN-Sicherheitsratsresolution (bis heute) fünf Monate heftig Krieg geführt, ohne dass es zu einem Waffenstillstand und zu politischen Verhandlungen bzw. einer politischen Lösung kam? Warum wurden alle Fact-Finding-Missionen abgelehnt? Wieso mussten mehr als 15.000 Menschen sterben? Weil Regime-Change (und darum ging es den westlichen Mächten von Anfang an) keine Kompromisse erlaubt. Die Waffen hätten nach NATO-Auffassung nur ruhen können, wenn sich der Kriegsgegner bedingungslos ergeben hätte. Weil er das nicht tat, wird er selbstverständlich für alle Opfer verantwortlich gemacht. Jede politische Initiative bzw. jedes Waffenstillstandsangebot Gaddafis wurde zurückgewiesen, da man Gaddafi grundsätzlich nicht trauen könne und dieser abtreten müsse. DANN (also quasi nach dem Regime-Change) könne man verhandeln. Die völlige Kompromisslosigkeit der Rebellen und der NATO ist insofern verblüffend, als viele Rebellenführer sich aus der Gaddafi-Führung rekrutierten. Der fließende Seitenwechsel zur anderen Bürgerkriegspartei wurde von Spiegel Online am 25.8.2011 mit der satirischen „Eilmeldung“ auf die Spitze getrieben, Gaddafi selbst sei nun auch zu den Rebellen übergelaufen. Insofern war die Basis für eine inhaltliche Einigung in Libyen besser als bei manch anderem Konflikt. Trotzdem wurden alle Bemühungen der Türkei, von Venezuela oder auch der Afrikanischen Union ignoriert bzw. bombardiert („Frankreich bombardierte eine Lösung“ – Überschrift in der türkischen Zeitung Hürriyet). In der Liste fehlt – Deutschland! Durch die Stimmenthaltung hätte die Bundesregierung alle Voraussetzungen für eine neutrale Vermittlung mitgebracht, aber hier unternahm Westerwelle offensichtlich nichts. DAS könnte man an ihm kritisieren, aber nicht die Stimmenthaltung im Sicherheitsrat.

Zweifellos war der NATO-Kriegseinsatz in Libyen intensiv: Bis Ende August wurde über 20.000 Lufteinsätze geflogen, darunter fast 8.000 richtige Kampfeinsätze. Zum Vergleich: im 1.Halbjahr 2010 wurden in Afghanistan nicht einmal 15.000 Einsätze geflogen!

Der Vorwurf an Westerwelle lautet nun, dass er den NATO-Kriegseinsatz nicht würdige und stattdessen „rechthaberisch“ auf die Erfolge der von ihm initiierten Sanktionspolitik verweise. Der wegen seiner Nähe zu Gaddafi Ende März im Eilverfahren abberufene russische Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, schätzte damals, dass der Krieg in 3-4 Monaten zu Ende sei, wenn nämlich das Gaddafi-Regime seine Leute nicht mehr mit Lebensmittel und anderen Dingen versorgen könne. Er hat sich offenbar nur um wenige Wochen verschätzt. Insofern soll man Westerwelles Argument nicht vom Tisch wischen. Denn wie soll eine Großstadt wie Tripolis, die sich nicht selbst ernähren kann und von allen Verkehrsverbindungen abgeschnitten ist, noch versorgt werden? Dass noch auf Schleichwegen Lebensmittel in die Stadt gebracht werden können, ändert an der allgemeinen Versorgungsproblematik nichts. Die tagesschau berichtet entsprechend am 27.8.2011 über die Lage in Tripolis, nachdem die Stadt von den Rebellen erobert wurde: „Für die Menschen in Libyens Hauptstadt Tripolis wird das Leben schwieriger. In der Millionenmetropole fiel stundenlang der Strom aus. Die ganze Stadt sei dunkel, berichtete eine Korrespondentin am Abend der Nachrichtenagentur dpa. Es gebe auch kein Wasser mehr… Zudem mangelt es in der Stadt an frischen Lebensmitteln. Vor den wenigen Geschäften, die frische Waren anbieten, bildeten sich lange Schlangen.“ Die Guthaben Libyens wurden seit März eingefroren und beschlagnahmt. Entsprechend geriet das Gaddafi-Regime auch ohne den täglichen Bombenhagel, der sicher auch der Strom- und Wasserversorgung nicht gut getan hat, immer mehr in die Bredrouille.

Dass die internationalen Sanktionen keine Wirkung auf den Konflikt hatten, kann man also nicht ernsthaft behaupten. Diejenigen, die Westerwelle wegen seiner Analyse des Zusammenbruchs des Gaddafi-Regimes kritisieren und ihn zum Abschwören und zur Würdigung der Militärschläge nötigen wollen, würgen damit gleichzeitig die Diskussionen über nicht-militärische Alternativen ab. Denn Westerwelle hatte bei den Zielen gar keinen Dissens zu seinen westlichen Bündnispartnern, er wollte diese aber ohne militärische Mittel erreichen.

Man muss Westerwelle in diesen Tagen verteidigen. Das geht, auch ohne dass man ihn gleich für den Friedensnobelpreis vorschlägt. Aber es wäre schon absurd, wenn er ausgerechnet zurücktreten würde, weil er etwas richtig gemacht hat.

Uli Cremer

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NATO als Wiederholungstäterin

Am 30.7.2011 hat die NATO Fernsehsenderanlagen in Libyen bombardiert und dabei nach libyschen Angaben 3 Techniker getötet und 15 weitere TV-Mitarbeiter verletzt. Die Bombardierung von Fernsehsendern ist leider seit 1999 (als beim Angriff auf den Belgrader TV-Sender 16 Menschen getötet wurden) offenbar integraler Bestandteil der NATO-Kriegsführung.
Freilich ist dieses „NATO-Gewohnheitsrecht“ durch das internationale Kriegsrecht untersagt. Im 1977er Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1949 lautet der entsprechende Artikel so:
Art. 52 Allgemeiner Schutz ziviler Objekte
1. zivile Objekte dürfen weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden. Zivile Objekte sind alle Objekte, die nicht militärische Ziele im Sinne des Absatzes 2 sind.
2. Angriffe sind streng auf militärische Ziele zu beschränken. Soweit es sich um Objekte handelt, gelten als militärische Ziele nur solche Objekte, die auf Grund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung
wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.
3. Im Zweifelsfall wird vermutet, dass ein in der Regel für zivile Zwecke bestimmtes Objekt, wie beispielsweise eine Kultstätte, ein Haus, eine sonstige Wohnstätte oder eine Schule, nicht dazu verwendet wird, wirksam zu militärischen Handlungen beizutragen.

Genauso wenig, wie eine Schule bombardiert werden darf, weil der Lehrkörper das „Falsche“ unterrichtet, darf ein TV-Sender bombardiert werden, weil es das „Falsche“ berichtet.
Besonders grotesk ist natürlich, dass die NATO sich grundsätzlich bei ihren Kriegshandlungen auf einen UN-Sicherheitsratsbeschluss zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung beruft. Genauer gesagt, sollte eine Flugverbotszone eingerichtet werden. Inzwischen fliegen nur noch NATO-Flugzeuge herum, und diese haben laut libyschen Angaben durch ihre Angriffe inzwischen über 1.000 ZivilistInnen das Leben gekostet.
Während mutmaßliche Verbrechen von Gaddafi in Den Haag mit Elan verfolgt werden, ist natürlich nicht zu erwarten, dass gegen die Verantwortlichen bei der NATO die naheliegenden Anklagen erhoben werden.
Immerhin: Im Gegensatz zum Kosovokrieg 1999 beteiligt sich Deutschland an dem Libyen-Krieg nicht direkt. Es zeigt sich einmal mehr, wie richtig die deutsche Nicht-Zustimmung zur Kriegsermächtigung im UN-Sicherheitsrat war. Es wäre allerdings hier und jetzt hilfreich, wenn Deutschland über seine „Kriegsdienstverweigerung“ hinaus seinen internationalen Einfluss nutzen würde, die NATO-Angriffe zu beenden und für die Vermittlung einen Waffenstillstands zwischen den beiden Bürgerkriegsparteien etwas zu tun.

Uli Cremer

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Fliegt de Maizière’s Verdummungskampagne jetzt auf?

Erleichterung im Verteidigungsministerium: Tausende verschwundene Bundeswehrsoldaten sind zurück!

Rekapitulieren wir die letzten Wochen: Minister de Maizière hatte seit Mai 2011 immer wieder behauptet, die Bundeswehr könne aktuell zu einem Zeitpunkt X nur 7.000 Soldaten in Auslandseinsätze schicken. Das wäre zu wenig, seine Bundeswehrreform sei notwendig, um die Zahl wenigstens auf 10.000 aufzustocken. Vor daher könne bei der Bundeswehr nicht gekürzt werden, diese sei ohnehin unterfinanziert.
Leider wollte in Parlament und Öffentlichkeit so gut wie niemand merken, dass hier eine clevere Verdummungskampagne gefahren wurde. Denn in Wirklichkeit hat de Maizière schon längst weit mehr als 10.000 Soldaten für diesen Zweck zur Verfügung. Wenn es also darum bei der Bundeswehrreform ginge, könnte man sich diese sparen.
Der Minister hatte einfach „vergessen“, zehntausende für Auslandseinsätze vorgesehene Truppenteile mitzuzählen. Insofern waren diese „verschwunden“. Konkret: Im Bundeswehr-Weißbuch 2006 ist nachzulesen, dass die Bundeswehr zwei Kategorien von Truppenteilen unterscheidet, die für Auslandseinsätze vorgesehen sind. Damals hatte die Bundeswehr 70.000 Stabilisierungskräfte und 35.000 Eingreifkräfte. Diese 105.000 Soldaten waren natürlich als Pool zu verstehen, aus denen jeweilige Auslandseinsätze bestückt werden konnten.
Wie in anderen NATO-Armeen sind davon 1/3 zu einem bestimmten Zeitpunkt einsatzfähig, das zweite Drittel ruht sich vom Einsatz aus und das dritte Drittel bereitet sich auf den nächsten Einsatz vor. Allein aus 35.000 Eingreifkräften konnte die Bundeswehr in den letzten Jahren also fast 12.000 Soldaten zum Einsatz bringen, nicht nur 7.000. Hans Rühle (ehemaliger Ministerialdirektor im Bundesverteidigungsministerium) informierte am 10.5.2011 in der FAZ („Die Bundeswehr kann mehr“) darüber, dass die Eingreifkräfte „inzwischen sogar von 35 000 auf 50 000 aufgestockt“ worden seien. Entsprechend kann die Bundeswehr aktuell fast 17.000 Eingreifkräfte einsetzen. Damit nicht genug, es gibt ja noch die Stabilisierungskräfte. Laut Rühle kann die Bundeswehr davon nur 7.000 parallel in den Einsatz bringen. Insgesamt hat die Bundeswehr Mitte 2011 demnach zeitlich parallel einsatzfähige Auslandstruppen in der Größenordnung 24.000!

Nun kam es so, dass die Verdummungskampagne, die fürs deutsche Publikum gedacht war, international Wirkung entfaltete und so nach hinten los ging. Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) nahm die Zahl 7.000 zum Nennwert und verglich sie mit den zeitlich parallel einsatzfähigen Soldaten von Frankreich (30.000) und Britannien (22.000). Entsprechend titelte die Wirtschaftswoche: „Bundeswehr ist ineffizienteste Nato-Armee“. Jetzt steckte der Minister in einem Dilemma: Sollte er die Bundeswehr in Schutz nehmen und sagen, die EDA operiere mit nicht vergleichbaren Zahlen? Oder sollte er die Image-Demontage einfach schlucken? Er entschied sich für Lösung 1 und befand, da würden „Äpfel mit Birnen“ verglichen. „Die rund 7000 Bundeswehrsoldaten im Einsatz würden 20 000 bis 30 000 Briten und Franzosen gegenübergestellt, die einsatzbereit seien. Bei Deutschland seien deshalb zumindest noch diejenigen Soldaten dazuzuzählen, die für die Nato Response Force und EU-Battlegroup gemeldet seien.“ (FAZ 5.7.2011)

Das machen wir mal eben: Laut Weißbuch 2006 sind 18.000 Eingreifkräfte für die EU und 15.000 für die NRF assigniert, macht 33.000. Parallel einsatzfähig wäre davon natürlich wieder nur ein Drittel, also 11.000. Addiert man diese zu den 7.000, müsste de Maizière einräumen, dass die Bundeswehr zumindest 18.000 Soldaten zeitgleich einsetzen könnte. Wie geschildert, sind es eigentlich sogar 24.000, was durchaus auf dem Niveau der britischen und französischen Kapazitäten liegt.

Wir sehen: Lügen bzw. Verdummungskampagnen haben kurze Beine. Denn die von de Maizière könnte jetzt auffliegen. Dafür müssten Journaille, Forschungsinstitute, MilitärkritikerInnen, OppositionspolitikerInnen das Thema allerdings geistig durchdringen und aufgreifen. Das ist kein Selbstgänger. Die politische Forderung wäre zunächst einmal die nach einem rigiden Sparkurs für die Bundeswehr, und zwar mit Beginn sofort und nicht erst in ein paar Jahren (wie die Bundesregierung aktuell plant) bzw. zum St.Nimmerleinstag. Vielleicht könnte so verhindert werden, dass die Angriffsfähigkeit der Bundeswehr mittels der Bundeswehrreform weiter optimiert wird.

Bei dieser Aussicht vielleicht doch keine Erleichterung im Ministerium, sondern großes Zittern: Fliegt die Kampagne auf oder kann man sich in die Sommerpause retten?

Uli Cremer

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Was die Westerwelle-KritikerInnen von Fischer lernen können

Gerade vielen GRÜNEN fällt es schwer zuzugeben, dass Westerwelle im März 2011 im Prinzip richtig lag: Je länger der Krieg in Libyen dauert, desto deutlicher wird, wie richtig das Abstimmungsverhalten Deutschlands im UN-Sicherheitsrat (= Nichtzustimmung zum Krieg) war. Der in der Resolution vorgesehene „Schutz der Zivilbevölkerung“ gilt in der Praxis nicht überall in Libyen. Inzwischen wurden durch die NATO-Angriffe auf Tripolis nach libyschen Angaben bereits 856 Zivilisten getötet (FAZ 20.6.2011). Selbst wenn die Zahl zu hoch angegeben sein mag (NATO: „reine Propaganda“) wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass die NATO-Angriffe bereits mehrere hundert Tote gefordert haben.

Nun kann man der NATO zu Gute halten, dass sie die Zivilbevölkerung ja nicht gezielt aus der Luft bombardiert. Das war bekanntlich der Vorwurf an das Gaddafi-Regime, weswegen eine Flugverbotszone im März 2011 verhängt wurde. Bewiesen ist das freilich bis heute nicht. So schreibt der Hamburger Prof. Reinhard Merkel: „Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ (FAZ 22.3.2011)

US-Professor Alan J. Kuperman stellt im Boston Globe vom 14.4.2011 sogar das Basisargument der Kriegsbefürworter, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi gedroht, in Frage: „Nor did Khadafy ever threaten civilian massacre in Benghazi, as Obama alleged. The “no mercy’’ warning, of March 17, targeted rebels only, as reported by The New York Times, which noted that Libya’s leader promised amnesty for those “who throw their weapons away.’’ Khadafy even offered the rebels an escape route and open border to Egypt, to avoid a fight “to the bitter end.’’”

Dennoch kritisieren deutsche Oppositionspolitiker Westerwelle wegen der Enthaltung im Sicherheitsrat. Jürgen Trittin erhebt z.B. den folgenden Vorwurf: „Es ist richtig, dass Deutschland sich an dieser Operation nicht beteiligt. Aber diese richtige Haltung kann man auch anders ausdrücken als durch Enthaltung. Die Resolution des Sicherheitsrates enthält viel Richtiges, deswegen wäre es klug gewesen, ihr zuzustimmen“. (FAZ 23.03.2011, „Einig in der Kritik nur an der Regierung, S.4)

Wenn man Nein meint, soll man mit Ja stimmen? Eine faszinierende Logik, die auf der angeblichen „Isolierung Deutschlands“ durch das Abstimmungsverhalten basiert. Mit der gleichen Logik dürfte Deutschland natürlich auch nicht aus der Atomenergie aussteigen, da es sich dabei natürlich auch um einen deutschen „Sonderweg“ handelt. Wenn die Verbündeten auf AKWs setzen, müsste man da eben mitmachen.

FDP-Minister Niebel wies richtigerweise darauf hin, dass Deutschland bei einer Zustimmung in der Pflicht gestanden hätte, sich am Einsatz zu beteiligen, politisch wie militärisch-technisch. Denn: „Neben den USA hat allein die Bundesluftwaffe mit ihren ECR-Tornados die militärischen Fähigkeiten, die Flugverbotszone durchzusetzen und die Flugabwehr auszuschalten.“ (dpa 19.3.2011)

Was können diejenigen, die sich ein deutsches Ja zum Krieg im Sicherheitsrat gewünscht hätten und gleichzeitig keine deutsche Beteiligung am Krieg nun von einem Vorgänger Westerwelle lernen? Dass so ein Unsinn nicht funktioniert. Sie brauchen dazu nur Fischers aktuelles Buch „I am not convinced“ lesen. Darin schildert er auf S.193ff, dass er bei einer möglichen Abstimmung zur Legitimierung des Irak-Krieges im UN-Sicherheitsrat 2003 exakt dieses schizophrene Verhalten ins Auge fasste. Sein Büroleiter Martin Kobler habe die Frage aufgeworfen, „warum wir unsere Ablehnung des Irak-Krieges nicht von unserem Abstimmungsverhalten im VN-Sicherheitsrat trennen könnten. Wir würden keine Soldaten in den Irak schicken, und damit wäre die Glaubwürdigkeit von Kanzler und Regierung gesichert.“ Motiv damals wie heute: Wichtiger als die Sache ist, dass Deutschland im westlichen Lager nicht isoliert ist. Fischer testete mittels eines mehrdeutigen Spiegel-Interviews, „ob eine Trennung vom deutschen Nein zum Irak-Krieg (keine Truppen) und dem Abstimmungsverhalten im VN-Sicherheitsrat (mögliche Zustimmung) von der deutschen Öffentlichkeit akzeptiert werden würde.“ Angesichts der entsetzten Reaktionen aus Medien und rotgrünem Lager schlussfolgerte Fischer: „Eines zumindest hatten mein medialer Testballon und die von ihm ausgelöste Aufregung zweifelsfrei klargemacht: dass eine Trennung von unserer Nichtteilnahme am Krieg und unserem Abstimmungsverhalten im VN-Sicherheitsrat von der deutschen Öffentlichkeit niemals akzeptiert werden würde. Und insofern konnte man diesen vermeintlichen Ausweg ad acta legen.“ Nichts Anderes gilt für die Aufwärmung dieser Schnapsidee im Falle der Libyen-Abstimmung. Man kann kein Nein durch den Ja ausdrücken. Das hatte Außenminister Westerwelle im März richtig erkannt und – um die von ihm für notwendig befundene Anschlussfähigkeit zu den kriegsbereiten NATO-Verbündeten zu erhalten – mit „Enthaltung“ gestimmt.

Uli Cremer

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