Einseitige rote Linien im Syrienkrieg
Für die meisten Medien ist die Sache klar: Das Assad-Regime hat (wieder) mit Chemiewaffen zugeschlagen und mehr als 1.300 Menschen (hauptsächlich Frauen und Kinder) umgebracht. Während in den ersten Berichten noch Einschränkungen wie „mutmaßlich“ oder „nicht überprüfbar“ gemacht wurden und sogar der Hinweis nicht fehlte, die syrische Regierung streite die Täterschaft ab, wird in späteren Kommentierungen im Grunde alles so behandelt, als sei eben doch alles hieb- und stichfest bewiesen . Dazu haben natürlich auch die westliche Politik-Akteure beigetragen, die die Behauptungen und Videos als Beweise für ihre Version der Ereignisse nehmen. Vorneweg wie immer die französische Regierung, die nach dem Motto „Ankläger, Richter und Henker – c’est moi!“ einmal mehr mit Militärschlägen gegen die aktuelle syrische Regierung droht.
Wie immer in solchen Situationen weiß in den deutschen Redaktionsstuben und in der Bloggergemeinde niemand, was sich wirklich zugetragen hat. Da empfiehlt es sich natürlich erst einmal ein paar logische Überlegungen vorzunehmen. Und in der Tat stellen auch einige Medien kritische Fragen. Z.B. Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ (22.8.2013): „Angesichts der Dramatik des Vorgangs fragt man sich, warum Assad Chemiewaffen ausgerechnet jetzt hätte einsetzen sollen, da sich UN-Inspekteure in Syrien aufhalten und die Regierungstruppen nicht auf dem Rückzug sind.“ Und: „Könnte es sich um ein großes Täuschungs- und Verwirrmanöver handeln?“ Der ehemalige schwedische Diplomat Rolf Ekeus, der in den 90er Jahren ein Team von UN-Waffeninspektoren im Irak geleitet hatte, merkt an: „Es wäre sehr seltsam, wenn die syrische Regierung ausgerechnet in dem Moment zu solchen Mitteln greifen würde, wenn die Beobachter im Land sind“. (vergl. taz 22.8.2013)
Anderen kommen die Meldungen wie gerufen, nämlich den syrischen Aufständischen und ihren internationalen Unterstützern von Qatar, Saudi-Arabien, der Türkei bis Frankreich und Britannien. Ihnen ist es nach zwei Jahren immer noch nicht gelungen, eine Militärintervention der NATO herbeizuführen, z.B. in Form einer NATO-Luftwaffenunterstützung – trotz diverser Massaker und Chemiewaffenvorkommnissen, die dem Assad-Regime angelastet wurden. Auch die westlichen Waffen werden weiterhin illegal geschmuggelt und nicht öffentlich geliefert. Selbst Cameron fehlt die parlamentarische Mehrheit für seine Syrienpolitik und offizielle britische Waffenlieferungen. Inzwischen nehmen auch die militärischen Kämpfe zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen zu. Insofern vermutet die russische Regierung wiederum die Täter bei den Aufständischen. Aber bewiesen ist auch das nicht.
Aber der Reihe nach. Die erste Frage ist: Gab es überhaupt einen Chemiewaffeneinsatz? Dazu argumentiert die ZEIT: „Dass die Aufnahmen gefälscht oder gestellt sind, ist unwahrscheinlich – dazu sind es schlicht zu viele.“ Lassen wir einmal den Einwand beiseite, dass man auch viel fälschen kann, und nehmen an, dass Hunderte, möglicherweise auch mehr als 1.300 Menschen durch einen Chemiewaffeneinsatz umgebracht worden sind.
Die zweite Frage ist dann: Wer sind die Täter? Wenn Assad-Regime verantwortlich ist: Von wem sind die Befehle erteilt worden? Von Assad selbst? Sind untergeordnete Ebenen aus dem Ruder gelaufen und haben ohne Befehl von oben gehandelt? Oder haben sie C-Waffen abgeschossen, um anschließend zu den Aufständischen überzulaufen?
Dass die syrische Regierung die Anschuldigungen abstreitet, ist verbrieft. Spiegel Online verweist am 21.8.2013 auf inzwischen gelöschte Einträge in der Facebook-Gruppe „Harasta News Network“, in denen Assad-Regime-Anhänger quasi ein Bekenntnisschreiben abgegeben hätten: „Auf Befehl von Präsident Dr. Baschar al-Assad, möge Gott ihn beschützen, und auf Befehl stolzer syrischer alawitischer Offiziere wurde heute Morgen gegen halb sechs Ost-Ghuta mit Chemiewaffen angegriffen, und die Operation wurde erfolgreich vollendet. Details der Operation erwarten wir in den nächsten Stunden.“ Die Qualität dieses Beweises ist, sagen wir einmal, nicht unbedingt gerichtsfest. Mehr liegt jedoch nicht vor.
Die nächste Frage ist die nach dem Motiv: Welches Motiv sollte das Assad-Regime für den Einsatz von C-Waffen haben? Wir rekapitulieren: Im Sommer 2012 drohen Paris und Washington mit einer Militärintervention, sofern bzw. sobald C-Waffen eingesetzt würden. Daraufhin setzt das Assad-Regime dann immer wieder C-Waffen ein, um beide Regierungen zur Militärintervention einzuladen? Kaum sind die UN-Inspekteure im Land, schon ordnet er den nächsten Chemiewaffeneinsatz an? Demnach wäre Assad ein politischer Selbstmörder oder „ein Irrer“, dem man eben alles (Amokläufe inklusive) zutrauen darf. Das ist eine wenig überzeugende Theorie, die nicht besser wird, wenn sie immer wieder aufgetischt wird. Z.B. von Dominic Johnson in seinem taz-Kommentar vom 22.8.2013: „Das Kalkül des syrischen Diktators indessen scheint simpel zu sein: Nachdem erst vor einer Woche Ägyptens Armee vor laufenden Kameras ungestraft mitten in der Hauptstadt Hunderte von Demonstranten massakrieren konnte, braucht sich Syriens Regime ja wohl keine Sorgen zu machen, wenn es nach über zwei Jahren Bürgerkrieg ein paar Dörfer vergast.“
Gut, wenn Assad also nicht für den Chemiewaffeneinsatz verantwortlich wäre, dann müsste er doch internationale UN-Inspekteure den Vorfall zeitnah untersuchen lassen! Das wäre in der Tat genau das, was jetzt stattfinden müsste. Und das hat der UN-Generalsekretär heute am 22.8.2013 ohne Wenn und Aber verlangt. Doch so ganz klar scheint die bisher allseits kolportierte Ablehnung seitens Assads nicht zu sein. Der russische Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch teilte am 22.8.2013 mit, die Führung um Präsident Baschar al-Assad habe erklärt, den Inspekteuren logistische Hilfe zu leisten und Zugang zu sichergestellten Proben zu geben (s. ZEITONLINE „Ferndiagnosen beweisen Giftgas-Einsatz nicht“). Ließe die Assad-Regierung die Inspekteure nicht ins Gebiet, wäre das allerdings auch kein stichhaltiger Beweis für ihre Schuld, schließlich toben dort gerade heftige Kämpfe. Und wenn ein UN-Inspekteur ums Leben käme, wer wäre dann schuld…?
Doch nehmen wir weiter an, die unabhängige Untersuchung fände statt und bewiese erstens den Chemiewaffeneinsatz und würde zweitens die Täter identifizieren. Was wäre jeweils die Konsequenz? Wenn das Assad-Regime verantwortlich wäre, drohten diesem zumindest französische Militärschläge, wenn nicht mehr. Würden die Aufständischen als Täter überführt, so droht ihnen seitens der westlichen Staaten absolut nichts. Jedenfalls hat bisher niemand im Westen erklärt, dass dann wenigstens die Waffenlieferungen, die logistische Hilfe und die Militärausbildung eingestellt würden. Die rote Linie gilt offenbar nur einseitig.
Uli Cremer
Comments
[…] Sicher, im Krieg ist vieles möglich, nur wahrscheinlich ist es damit noch lange nicht, wie auch Uli Cremer von der Grünen Friedensinitiative argumentiert: „Welches Motiv sollte das Assad-Regime für den […]
Informationsstelle Militarisierung (IMI) » Giftgas in Syrien: Cui bono?
23. August 2013
[…] sinnlosen Giftgaseinsatz angeordnet haben sollte. So schreibt etwa Uli Cremer auf der Homepage der Grünen Friedensinitiative (22.08.2013): „Welches Motiv sollte das Assad-Regime für den Einsatz von C-Waffen haben? Wir […]
Informationsstelle Militarisierung (IMI) » Syrien: Giftgasangriffe und die Verstetigung des Bürgerkrieges
27. September 2013